Personalnot
„Branche der Chancen und Integration“
Die internationale Hotelgruppe Accor sieht unter anderem in der Inklusion von Menschen mit Behinderung Möglichkeiten, dem gravierenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Foto: Accor
BU: Die internationale Hotelgruppe Accor sieht unter anderem in der Inklusion von Menschen mit Behinderung Möglichkeiten, dem gravierenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Foto: Accor
In den Branchen Tourismus, Tagung und Hospitality haben während der Pandemie viele Arbeitnehmer den Job gewechselt. Neben politischen Maßnahmen zur Entbürokratisierung oder Aufstockung von Freigrenzen liegen Chancen in Zuwanderung und Diversität, dem Fachkräftemangel zu begegnen.
Dass die Veranstaltungsbranche „eine der am stärksten betroffenen Branchen“ von der Pandemie sei, ist einer der am meisten zitierten Sätze der vergangenen zweieinhalb Jahre in vielen Forderungen von Verbänden, Situationsberichten, Podiumsdiskussionen oder Talkshows. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie liegen auf der Hand: Umsatzeinbußen aufgrund vieler abgesagter Veranstaltungen und daraus resultierend schließlich die Abwanderung zahlreicher Fachkräfte mangels Perspektive. Diese Situation veranlasst nun fwd: Bundesvereinigung Veranstaltungswirtschaft und das Research Institute for Exhibition and Live-Communication (R.I.F.E.L.) zu einer umfangreichen Befragung des Wirtschaftszweigs. „Zum einen wollen wir unserer Branche helfen, das aktuelle Gehaltsgefüge besser einordnen zu können. Im besten Falle sind sogar Honorarempfehlungen möglich. Doch die Überlegungen gehen noch weiter: Wie bleibt man ein attraktiver Arbeitgeber, innerhalb des Sektors und auch im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen? Wie bekommen wir abgewanderte Fachkräfte zurück in die Veranstaltungswirtschaft? Welche Rahmenbedingungen sind neben dem Gehalt noch entscheidend?“, so Jörn Huber, Vorstandsvorsitzender von fwd: Bundesvereinigung Veranstaltungswirtschaft.
Denn auch wenn die Auftragsbücher im Sommer 2022 nachholbedingt gefüllt sind, kann von einem Aufatmen für die Veranstaltungsbranche gewiss nicht die Rede sein. Winter und Herbst könnten – erneute Beschränkungen für Veranstaltungen vorausgesetzt – zu einem wiederholten Einbruch führen. Die Corona-Beschränkungen haben die Geschäftsjahre 2020 und 2021 zwangsweise verkürzt und einen dramatischen Fachkräftemangel ausgelöst. Unterschiedlichen Erhebungen zufolge fehlen rund 54 Prozent bestens ausgebildeter Fachkräfte. Die aktuellen Projekte sind mangels Personals kaum zu bewältigen. Jörn Huber sieht darin einen Hauptgrund für die Kostenexplosion in der Veranstaltungsbranche: „Gerade die momentane Situation auf dem Arbeitsmarkt verursacht Teuerungsraten über 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr.“
Jörn Huber: Gerade die momentane Situation auf dem Arbeitsmarkt verursacht Teuerungsraten über 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Foto: privat
Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit
Wie dramatisch die Situation ist, zeigen auch die folgenden Zahlen. Laut Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit haben im Jahr 2020 knapp 216.000 Personen den Bereich Tourismus, Hotel und Gaststätten verlassen – allesamt Gewerke der Veranstaltungsbranche. Von insgesamt 788.604 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Jahresdurchschnitt 2020 entschieden sich 215.889 Personen – vor allem während der Lockdowns – für einen neuen Beruf. Das ist mehr als jeder Vierte (27,4 Prozent). Kein anderer Berufsbereich hat relativ gesehen so viele Beschäftigte verloren. Zwar wurden insgesamt 116.770 Wechsel in diese Berufe hinein verzeichnet, dennoch ergibt sich ein Minus von fast 100.000 Beschäftigten zwischen denen, die den Beruf verlassen, und denen, die diesen neu aufgenommen haben. Dieser Saldo ist im Vergleich der insgesamt 37 erhobenen Berufsbereiche mit Abstand am höchsten. Noch gravierender wird es, wenn man die Zahl der qualifizierten Fachkräfte dabei miteinbezieht. Denn diese Zahl sank laut Berechnungen der Fachkräftedatenbank des Instituts für Wirtschaft in Köln von Juni 2020 bis Juni 2021 um 59.290 Personen, ein Rückgang um 10,3 Prozent. Es fehlt also nicht nur, wie mitunter behauptet, an Aushilfskräften und Teilzeitbeschäftigten, die Pandemie hat nachweislich einen Fachkräftemangel zu verzeichnen. „Wir brauchen jetzt schnelle und pragmatische Maßnahmen zur Mitarbeitergewinnung“, fordert daher Dehoga-Präsident Guido Zöllick, und schlägt erleichterte Zuwanderungsregeln sowie eine verbesserte Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten vor. Laut einer Dehoga-Umfrage von Anfang Juni suchen über 60 Prozent der gastgewerblichen Betriebe Fach- und Hilfskräfte. „Weil es an Mitarbeitern fehlt, müssen Unternehmen ihre Öffnungszeiten reduzieren und Veranstaltungen ablehnen“, erläutert Zöllick. Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, seien zuletzt Entgelttarifverträge mit Lohnerhöhungen im zweistelligen Prozentbereich abgeschlossen worden, und auch die Ausbildungsvergütungen stiegen stark an, so der Dehoga-Präsident.
Wo sind all die Fachkräfte hin? Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet vor allem Verkauf und Verkehr als Ziele. Foto: Institut für Wirtschaft
Dass die Regierung die Weiterentwicklung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes im Koalitionsvertrag verabredet hat, begrüßt Zöllick. „Das muss jetzt zügig angegangen werden. Unsere bestens ausgebildeten Mitarbeiter gehen in alle Welt, da sollte es selbstverständlich sein, auch mit aller Kraft Mitarbeiter aus der ganzen Welt für uns zu gewinnen.“ Dafür sei es unverzichtbar, Verfahren zu vereinfachen, die Beschaffung von Visa zu beschleunigen sowie neue rechtliche Möglichkeiten der gezielten Erwerbsmigration zu schaffen.
Das Institut für Wirtschaft (IW) arbeitet in seinem Kurzbericht „Sorgenkind Gastro? Berufswechsel in der Corona-Pandemie“ nicht nur die nackten Daten auf, sondern sucht auch Lösungsmöglichkeiten.
Bedürfnis nach Sicherheit
„Es ist davon auszugehen, dass das Sicherheitsbedürfnis der Beschäftigten in der Krisenzeit stark zugenommen hat, und dass Berufe, die eine hohe Stabilität signalisieren, deswegen an Beliebtheit gewonnen haben. Gleichzeitig haben sich viele Menschen (zunächst vorübergehend) alternative Beschäftigungen gesucht und die Arbeitsbedingungen in anderen Berufen kennen- und schätzen gelernt“, heißt es in der Studie der IW-Mitarbeiterinnen Dr. Anika Jansen, Economist im Projekt Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA), und Paula Risius, Researcher für digitale Bildung und Fachkräftesicherung. „Deswegen sollten Unternehmen auch in krisengeplagten Branchen deutlich machen, welche langfristigen Perspektiven sie bieten können, sowie weiter an der Vereinbarkeit der Tätigkeiten und ihrer Arbeitgeberattraktivität arbeiten. Zu diesem Zweck kann beispielsweise geprüft werden, ob sich flexible Arbeitszeitregelungen durch persönliche Arbeitszeitkonten eignen oder Unterstützung für die Randzeitenbetreuung in der Kita geleistet werden kann.“ Langfristig sei der Fachkräftemangel aber nicht allein durch personalpolitische Maßnahmen zu beseitigen, sondern müsse auch weiterhin durch politische Initiativen wie etwa Regelungen zur Fachkräfteeinwanderung flankiert werden, geht die Studie mit der Dehoga konform. Die Konzertveranstaltungsbranche, ebenfalls von einem massiven Personalmangel betroffen, wählt in einem offenen Brief von Veranstaltern wie dem Wacken Festival, Rock im Park, FKP Scorpio und vielen mehr drastische Worte: „Seit zwei Jahren schieben wir einen immer größer werdenden Berg an oft mehrfach verlegten Konzertveranstaltungen vor uns her, der mit den verbliebenen Personalressourcen nicht mehr zu bewältigen sein wird. Dieser Personalmangel ist so drastisch, dass bei Weitem nicht alle anstehenden Konzerte durchgeführt werden können ... Die meist kurzfristig beschäftigten Arbeitnehmer:innen haben bereits unmittelbar nach Beginn der Pandemie die Branchen gewechselt. Dies führt zu einem massiven Domino-Effekt. Mit den Veranstaltern 'sterben' sämtliche Dienstleister rund um das Veranstaltungsgewerbe, die Clubs, die Hallen und am Ende die gesamte Musiklandschaft.“ Es müssen daher dringend Maßnahmen ergriffen werden, um altes Personal zu reaktivieren, bestehendes Personal zu halten und neues Personal zu rekrutieren. Als Lösungsmöglichkeiten sehen die Veranstalter eine Aufstockung der Freigrenze für geringfügig Beschäftigte in der Eventbranche von monatlich 450 auf 1.200 Euro, Vereinfachungen zum Einsatz kurzfristig Beschäftigter (Anhebung der Einsatz- und Zuverdienstgrenzen), Entbürokratisierung von formellen Voraussetzungen für Arbeitsverträge und Zusammenarbeit von Dienstleistenden bei Großveranstaltungen oder eine Reform des § 34a GewO, nach der die Möglichkeit geschaffen soll, auch Nicht-„34a Kräfte“ im Ordnungsdienst bei Großveranstaltungen einsetzen zu können.
Vielfalt und Inklusion
Doch all diese Maßnahmen erfordern Zeit. Was unmittelbar getan werden kann, um dem Fachkräfteschwund entgegenzuwirken, zeigen einige Unternehmen der Hotellerie. So setzt sich die Accor-Hotelgruppe aktiv für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein. „Jedem Menschen eine Chance geben, ohne Grenzen“, bekräftigt Sébastien Bazin, CEO von Accor. Seit 2015 ist Accor Mitglied der Global Business and Disability Charta der International Labor Organisation (ILO), die sich der Bekämpfung von Diskriminierung, der Förderung der Chancengleichheit und der Verbesserung des Zugangs zu Arbeitsplätzen verschreibt. Seit Ende 2021 ist die Gruppe Mitglied der „Valuable 500“, einem Zusammenschluss von Großunternehmen, der Menschen mit Behinderungen stärker in die Arbeitswelt integrieren will. Gemeinsam mit Total Energies, der Allianz oder Sodexo setzt sich Accor so für Inklusion ein.
„The Valuable 500“
„The Valuable 500“ ist eine globale Initiative, die sich für die Inklusion von Menschen mit Behinderung einsetzt. Die Initiative von Sozialunternehmerin Caroline Casey basiert auf der Überzeugung, dass Inklusion in Unternehmen gleichzeitig Inklusion in der Gesellschaft fördert. „The Valuable 500“ strebt eine Mitgliedschaft von 500 Unternehmen an.
Konkret zeigt sich das etwa am Beispiel des Novotel Shanghai Atlantis, das im Zuge seiner Partnerschaft mit der Shanghai Pudong Special Education School bereits 163 Auszubildende mit Behinderungen aufgenommen hat. Das ibis Combo und das Novotel Hangar in Salvador de Bahia, beide Partner der APAE, einer Vereinigung zur Unterstützung von Menschen mit Down-Syndrom, stellten Auszubildende ein, die von einem Paten begleitet wurden, um ihre Integration zu erleichtern. Das MGallery William Inglis in Sydney hat in Zusammenarbeit mit dem METs-Dienst ein maßgeschneidertes und betreutes Ausbildungsprogramm ins Leben gerufen, um die berufliche Integration von Studenten mit Behinderungen zu fördern. Und das Novotel Bangkok Suvarnabhumi Airport stellte in Zusammenarbeit mit der National Association of the Deaf in Thailand und der Association For Persons with Special Needs in Singapur mehrere Talente ein.
Die Deutsche Hospitality setzt hingegen voll auf Weiterbildung und bietet in der Steigenberger Akademie digitale Crashkurse für Mitarbeitende in der Hotellerie an. Unter dem Motto „Refresh your Hotel Skills“ umfassen die Trainings grundlegende Inhalte wie Kenntnisse zum Front Office, Küche, Housekeeping und Service und vertiefende Updates zu Hotel Revenue Management, Upselling oder den richtigen Umgang mit Gastbeschwerden. Die Steigenberger Akademie will dort unterstützen, wo der Bedarf am größten ist. „Aus diesem Grund haben wir das Angebot 'Refresh your Hotel Skills' auf Basis einer internen und externen Bedarfsanalyse konzipiert“, so Ulrich Bensel, Chief Human Resources Officer der Deutschen Hospitality und Geschäftsführer der Steigenberger Akademie. „Nach zwei Jahren Pandemie gibt es in der Branche einen großen Bedarf, Kenntnisse aufzufrischen und sich auf den neusten Stand zu bringen. Hier setzt die Akademie mit einem neuen Kursangebot an.“ Die Radisson Hotel Group startet derzeit eine Einstellungsinitiative, um 1.500 Mitarbeiter zu gewinnen. Mit mehr als 100.000 Bewerbungen seit Januar 2022 kann sich die Gruppe nicht über mangelndes Interesse beklagen. „Der Beginn des Jahres 2022 war ein echter Wendepunkt für die Erholung der Reisebranche. Während der Covid-19-Pandemie verließen leider viele hochtalentierte Menschen das Gastgewerbe aufgrund der Schließungen und Beschränkungen, aber jetzt erleben wir einen starken Wiederaufschwung. Reisen und Gastgewerbe zeichnen sich seit jeher durch eine starke geschäftliche Widerstandsfähigkeit aus, und jetzt ist eine aufregende Zeit für unternehmerische Talente, die sich dem Gastgewerbe und der Radisson Hotel Group anschließen möchten, da wir weiterwachsen“, sagt Iñigo Capell, Global Chief People & Resources Officer der Radisson Hotel Group. Ein Grund für den hohen Zuspruch könnte die Radisson Academy sein, ein Lern- und Entwicklungsprogramm der Gruppe, das mehr als 2.500 Online-, virtuelle und Live-Lernseminare anbietet, getreu dem Motto „We grow talent, talent grows us“.
Die Hoteliers der rund 200 individuellen Hotels in Deutschland freuen sich: Best Western Hotels & Resorts zählt zu den Ausbildungs-Champions der Hotellerie in Deutschland – so das Ergebnis der Studien von F.A.Z.-Institut und IMWF. Foto: Best Western
Die Best Western Hotel Group hat sich Nachwuchsförderung auf die Fahnen geschrieben. So wird die Gruppe in einer Studie vom F.A.Z.-Institut in Frankfurt in Zusammenarbeit mit IMWF Institut für Management- und Wirtschaftsforschung als einer der „Ausbildungs-Champions 2022“ gelistet. Dafür wurden rund 15.000 Unternehmen in Deutschland im Rahmen eines zweistufigen Social Listenings sowie einer Online-Befragung analysiert. Das Unternehmen sieht diese Auszeichnung als Belohnung für jahrzehntelange Nachwuchsförderung mit Initiativen wie dem Azubi-Tag, dem Best Talents Day oder einer eigenen Akademie mit Präsenz- sowie Online-Schulungen. „Wir reagieren auf den Mitarbeitermangel in der Hotellerie und wirken aktiv dagegen. Talente zu finden, ist nur der erste Schritt, sie zu fördern und zu halten ist mindestens genauso wichtig“, sagt Marcus Smola, Geschäftsführer der BWH Hotel Group Central Europe GmbH. So gibt es seit Jahresbeginn für die Partnerhotels auch eine neue Dienstleistung: Die individuell geführten Hotels der Gruppe erhalten über zentrale Human Resources Services Unterstützung bei allen Angelegenheiten in Sachen Mitarbeiter-Recruitment und Mitarbeiterbindung. „Wir priorisieren das Thema noch höher als bisher und bieten als BWH Hotel Group unseren Partnerhotels nun zusätzlich Human Resources Services. Diese breite Unterstützung in Sachen Mitarbeiter-Recruiting und Mitarbeiterbindung wird eine professionelle und wertvolle Hilfe für alle Betriebe sein”, ergänzt Smola. Im Grunde bleibt wie so oft keine andere Wahl, als optimistisch zu bleiben. Wie Dehoga-Präsident Guido Zöllick: „Wir sind uns sicher, dass unsere Branche wieder wachsen wird und wir Arbeits- und Ausbildungsplätze mit Zukunft für Menschen aus dem In- und Ausland anbieten können. Das Gastgewerbe ist die Branche der Chancen und der Integration. Um das zu bleiben, benötigen wir Perspektiven.“ Christian Funk