
Interview mit Sven Kretzschmar
„Es gibt nie das eine Ereignis, das zum Zusammenbruch führt.“
Sven Kretzschmar hätte nie gedacht, dass ausgerechnet er in einem Burnout landen könnte. Deshalb hat er viele Warnzeichen übersehen. Damit es anderen nicht ebenso ergeht, teilt er seine Erfahrungen. Foto: Jaana Kretzschmar
Sven Kretzschmar hätte nie gedacht, dass ausgerechnet er in einem Burnout landen könnte. Deshalb hat er viele Warnzeichen übersehen. Damit es anderen nicht ebenso ergeht, teilt er seine Erfahrungen. Foto: Jaana Kretzschmar
Sven Kretzschmar, Head of Brand Management Deutschland und Österreich beim Lebensmittelkonzern Hipp, über Mentale Gesundheit, die Verantwortung von Führungskräften und seinen eigenen Burnout.
tw tagungswirtschaft: Sie sprechen sehr offen über Ihre Burnout-Erfahrung, demnächst sogar auf der Bühne des Nextlive.Festivals. Warum haben Sie sich dazu entschlossen?
Sven Kretzschmar: Die Frage ist absolut berechtigt. Viele Menschen, die aus einem Burnout zurück in den Job kommen, entscheiden sich dafür, überhaupt nicht über diese Zeit zu sprechen. Und das ist ihr gutes Recht. Ein Burnout ist eine tiefgreifende, in der Regel sogar lebensverändernde Erfahrung, die für viele sehr intim ist und damit berechtigterweise Privatsache. Das gilt auch für mich. Aber gerade weil die Erfahrung für mich und meine Familie so massiv war und uns so aus der Bahn geworfen hat, habe ich mich dazu entschlossen, das mir Mögliche zu tun, um andere Menschen davor zu bewahren. Ich will mögliche Betroffene und auch ihre Führungskräfte sensibilisieren und Hinweise geben, wie man Burnout vermeiden kann oder zumindest rechtzeitig gegensteuern kann, wenn die ersten Warnsignale auftauchen. Denn hätte ich diese Signale als solche erkannt, wäre mir und meiner Familie wahrscheinlich eine lebensbedrohliche Erfahrung erspart geblieben.

Foto: Hans Schriever
„Drei Fragen an Hans Schriever“
Geschäftsführer der Agentur für Livemarketing Nextlive und Gastgeber des Nextlive.Festivals 2024.
Wenn Sie diese Warnsignale übersehen haben, wie – und wann – haben Sie dann gemerkt, dass etwas nicht stimmt?
Ich konnte von einem auf den anderen Tag nicht mehr schlafen. Klar, Schlafstörungen hat jeder mal – ich auch. Aber um halb zwölf ins Bett zu gehen und eine Stunde später wieder aufzuwachen und den Rest der Nacht wach zu liegen – das hatte ich vorher noch nicht. Und schon gar nicht über viele Monate hinweg. Als Burnout habe ich das zunächst trotzdem nicht wahrgenommen. Ich dachte an eine Stressreaktion oder irgendetwas Hormonelles und hielt trotz des enormen Schlafmangels noch acht Wochen durch. Ich hatte über Weihnachten drei Wochen Urlaub geplant und bin davon ausgegangen, dass es danach schon wieder besser sein würde. Das stimmt leider nicht. Die Schlaflosigkeit blieb. Da war mir klar, dass ich ein größeres Problem hatte.
Da haben Sie realisiert, dass es ein Burnout sein könnte?
Ja. Es gibt nie das eine Ereignis, das zum Zusammenbruch führt. Man spricht in der Burnout-Forschung von einer Anhäufung unangenehmer Emotionen, der sogenannten „quantitativen Last“, die sich wie Felsbrocken über Monate, teils über Jahre auf die Seele legen und den Menschen belasten. So war es auch bei mir. Diese äußeren Faktoren sind sehr individuell, in meinem Fall haben sie überwiegend im beruflichen Kontext stattgefunden. Allerdings gab es auch eine Vor-Verwundbarkeit, die durch die sehr belastende Corona-Zeit hervorgerufen und durch den coronabedingten Verlust meines Vaters und einige andere Ereignisse verstärkt wurde. Das alles hatte meine Resilienz, also mein seelisches Abwehrsystem, geschwächt. Am Ende hat mein System dann die Notbremse gezogen. Der finale Zusammenbruch kam fast 18 Monate nach den ersten Warnsignalen.
Worauf können Betroffene achten, um diesen finalen Zusammenbruch zu vermeiden?
Es lohnt sich, wachsam zu sein. Denn wer die frühen Anzeichen erkennt, kann sich viel leidvolle Erfahrungen ersparen. Hilfreich dafür ist es, den Burnout-Zyklus grob zu verstehen. Er kann von den ersten Warnsignalen bis zum sogenannten „Shutdown“ in zwölf Phasen eingeteilt werden. Die ersten vier Phasen können noch als Warnstufen betrachtet werden. Und alle trafen auch bei mir fast schon bilderbuchmäßig zu.
Können Sie diese Warnstufen näher beschreiben?
Am Anfang steht oft der Zwang sich zu beweisen. Ein häufiger Einstiegsfaktor in den Burnout-Zyklus ist übersteigerter Ehrgeiz: Man will seine Sache besonders gut machen. Häufig verwandelt sich dieser Wunsch dann in Verbissenheit. Auch ich hatte überhöhte Ansprüche an mich und mit der Zeit wurde es immer schwieriger, den Anforderungen in der zur Verfügung stehenden Zeit zu genügen. Also erhöht man nach und nach das Arbeitspensum. Es folgt die zweite Phase: verstärkter Einsatz. Um den sich selbst gesteckten, hohen Anforderungen gerecht zu werden, wird noch mehr Leistung gezeigt, häufig verbunden mit der Idee, dass man alles selbst und insbesondere dringlich erledigen muss. Es stellt sich ein Gefühl der Unentbehrlichkeit ein – so war es auch bei mir. Durch die Hektik und Verbissenheit aber muss immer mehr Energie aufgewendet werden, um das gleiche Pensum an Arbeit zu erledigen. Deshalb sinkt in dieser Phase häufig der Output und es werden oft kleine Fehler gemacht. Die dritte Phase ist die subtile Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse. Man findet die Arbeitsbelastung in dieser Phase normal. Ich könnte das Gefühl von damals, so stark gebraucht zu werden, sogar fast als angenehm beschreiben. Essen, Trinken, Pausen, Sport, Schlaf, soziale Kontakte, Familie – all das muss zurücktreten. Der Lebensstil wird zunehmend ungesünder und es treten häufig erste Schlafstörungen auf. So war es auch bei mir.
Das klingt schon extrem belastend. Konnten Sie in dieser Phase wirklich noch alle Bedenken ausblenden und sich davon überzeugen, dass es normal ist, so viel zu arbeiten?
Auf jeden Fall. Ich wachte häufig schon um vier Uhr früh auf, weil der Kopf schon wieder weiterarbeiten wollte, und setzte ich mich an den Laptop, um „schon mal was wegzuschaffen“. Ich empfand es damals absolut nicht als falsch, sondern eher als Energie-Schub. Ein bisschen wie in dem Song: „Ich muss nur noch schnell die Welt retten.“ War ja alles wichtig.
Hat Ihre Umgebung, Ihre Familie das auch so gesehen? Kam da keine Kritik von außen?
Doch natürlich. Und das ist die vierte Phase im Zyklus: die Verdrängung von Konflikten und Bedürfnissen. Die eigenen Bedürfnisse geraten immer mehr in den Hintergrund, das Privatleben findet immer eingeschränkter statt. Ich verzichtete immer häufiger auf meinen Tischtennis-Montag, der mir eigentlich immer heilig war. Ich ging nicht mehr laufen, traf mich kaum noch mit Freunden – und traf immer weniger auf Verständnis. Hier kommt es häufiger zu Auseinandersetzungen – mit der Familie, mit Freunden, mit Arbeitskollegen oder mit dem Vorgesetzten. Wenn man so unter Strom steht und dazu noch schlecht schläft, funktioniert man zwar. Aber man verliert jegliche Sensibilität, jegliches Feingefühl im Umgang mit anderen. Spätestens hier ist übrigens auch der Punkt, an dem bei Vorgesetzten alle Alarmglocken läuten sollten. Denn in dieser vierten Warnphase fangen ansonsten zuverlässige Mitarbeitende – häufig sind sie sogar die Leistungsträger im Team – auf einmal an, ungenauer zu werden, versprochene Aufgaben nicht zu erledigen oder unpünktlich zu sein. Hier häufen sich Fehler, die der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter früher nie passiert wären.

Heute arbeitet Sven Kretzschmar – hier auf der Bio-Landwirtschaft von Stefan Hipp – wieder als Top-Führungskraft beim Hipp-Konzern. Foto: privat
Wie hat Ihre Führungskraft reagiert?
Mein Arbeitgeber, in meinem Fall der Inhaber von Hipp, hat mich hervorragend unterstützt! Mir wurde im Unternehmen nicht nur volles Verständnis entgegengebracht, sondern auch glaubhaft vermittelt, dass das Wichtigste jetzt erst mal sei, dass ich wieder lernte, zu schlafen und gesund werde. Wir hatten zunächst eine Auszeit von bis zu sechs Monaten vereinbart. Und als absehbar war, dass es deutlich länger dauern würde, hat man mir die Zeit gelassen, die ich brauchte, um wieder ganz gesund zu werden. Besonders wertvoll für die Genesung war die Gewissheit, dass ich auch nach so langer Krankheit weiterhin ein erwünschter Mitarbeiter war und bei Hipp einen sicheren Arbeitsplatz hatte. Denn natürlich macht man sich im Burnout finanzielle Sorgen. Dass ich wusste, dass es wieder ein sicheres Einkommen gibt, sofern ich gesund würde und ins Arbeitsleben zurückkehren könnte, hat mir und meiner Familie ein gutes Gefühl der Hoffnung vermittelt und uns gestützt. Auch wenn ich im Burnout wirklich mit keiner Faser geglaubt hatte, dass eine Genesung möglich ist. Diese Sicherheit ist nicht bei allen Firmen selbstverständlich.
Wie haben Sie den Weg aus der Krise zurück in den Alltag gemeistert und was hat Ihnen dabei am meisten geholfen?
Die Zeit vom Burnout bis zum Wiedereinstieg ins Berufsleben dauerte bei mir fast eineinhalb Jahre, also fast genauso lang wie der Weg hinein in den Burnout. Das ist sehr häufig so. Sehr geholfen hat mir dabei meine Familie und insbesondere meine Frau, die mich immens unterstützt hat, sowie ein hervorragender Therapeut, der mir glaubhaft vermittelte, dass irgendwann alles wieder gut werden könnte. Entscheidend aber war die grenzenlose Akzeptanz, dass alles so ist, wie es ist, und dass ich erst einmal nichts beeinflussen kann. Bis zu diesem Punkt zu kommen, war allerdings sehr hart: Ich musste fast ein Jahr lang durch das tiefste Tal schreiten, das ich je durchschreiten musste – und ganz an meinem Boden ankommen, um diesen wieder zu spüren. Um dann wieder ganz langsam aufzusteigen.

„Mein einfacher Rat ist, Balance zu halten.“
Sven Kretzschmar, Head of Brand Management Deutschland und Österreich bei Hipp
Wie beeinflusst Sie die Burnout-Erfahrung als Führungskraft? Achten Sie anders auf Ihre Mitarbeitenden?
Aus so einer fundamentalen Erfahrung kommt man immer als anderer Mensch und auch als andere Führungskraft zurück. Ich lege jetzt viel mehr Wert auf persönliche Gespräche mit meinen Mitarbeitenden als vorher und sorge dafür, dass es nicht immer nur um Projekte, Performance, KPIs geht. All das ist wichtig. Aber damit Menschen zu Höchstleistung und Kreativität fähig sein können, ist es wichtig, dass es ihnen gut geht und dass sie sich verstanden und wertgeschätzt fühlen: als Menschen mit ihren Eigenheiten und auch mit ihren Sorgen und Bedürfnissen. Als sehr ehrgeiziger Marketer fällt mir das noch nicht immer leicht. Aber immer, wenn es mir gelingt und ich mir die Zeit für diese wichtigen Gespräche genommen habe, geht es hinterher allen besser. Den Mitarbeitenden, aber auch mir selbst. Und das ist wichtig. Die Haupt-Qualifikation einer guten Führungskraft sind für mich die vier Ms: Man Muss Menschen Mögen! Und das bedeutet auch, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass diese Menschen gesund bleiben.
Und welchen Rat würden Sie potenziell betroffenen Menschen in der Event-Branche geben?
Mein einfacher Rat ist, Balance zu halten. Mit Freude und Energie dem Job nachzugehen, der einem Spaß macht – und tolle Dinge auf die Beine zu stellen, ist fantastisch und macht zufrieden. Dann hat Stress auch durchaus etwas Positives und befähigt uns zu Höchstleistungen. Aber das ist nicht alles! Danach muss es Ent-Spannung geben, damit das Stresshormon Cortisol absinken kann und man gut schläft. Also setzt Euch zwischendurch einfach mal hin und spürt in Euch hinein: Wie geht’s mir gerade? Ist alles in Ordnung? Und falls nein: Was bräuchte ich jetzt, damit es mir besser geht? Sollte ich vielleicht früher Schluss machen und mich mit Freunden treffen oder in die Sauna gehen? Und nicht vergessen: Die wichtigste Person in Eurem Leben seid Ihr selbst! Und dann gleich alle anderen!
Sylvia Lipkowski