Kolumne
Blickpunkt Nachhaltigkeit
Prof. Dr. Markus Große Ophoff ist Fachlicher Leiter DBU Zentrum für Umweltkommunikation und Kolumnist der tw tagungswirtschaft. Foto: DBU-Archiv
Prof. Dr. Markus Große Ophoff ist Fachlicher Leiter DBU Zentrum für Umweltkommunikation und Kolumnist der tw tagungswirtschaft. Foto: DBU-Archiv
Normung: Fluch oder Segen? Warum eine Reform des Normungswesens notwendig ist
Kolumne von Prof. Dr. Markus Große Ophoff, Fachlicher Leiter und Prokurist DBU Zentrum für Umweltkommunikation der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU)
Wir alle haben täglich mit Normen zu tun. Das reicht von der Größe des Papiers in unseren Druckern bis hin zu Nachhaltigkeitsnormen für Veranstaltungen. Das Ziel von Normen ist, die Zusammenarbeit in der Wirtschaft und im internationalen Handel zu vereinfachen. Ohne Normen würde schnell ein Chaos an inkompatiblen Systemen entstehen – beispielsweise in der Veranstaltungstechnik. In dieser Hinsicht sind Normen auf jeden Fall ein Segen und wir werden Normen auch weiterhin brauchen. Normen sind dabei sehr vielfältig. Sie reichen von DIN-Normen für demontierbare Bühnen, Medienserver oder Steckvorrichtungen für Beleuchtungsanwendungen über Regelungen der Unfallversicherer zur Absturzsicherung oder dem professionellen Bühnentanz sowie zahlreichen Baunormen für die Errichtung und den Betrieb von Gebäuden, die für Veranstaltungen genutzt werden, bis hin zu den Richtlinien für freiwillige Zertifizierungen – wie beispielsweise den gerade neu vorgestellten Blauen Engel für nachhaltige Veranstaltungen. In der Summe gibt es sicherlich Hunderte von Organisationen, die Normen, Regelungen oder Zertifikate veröffentlichen, die unter anderem auch den Veranstaltungssektor betreffen. Wenn man allein auf den Seiten des DIN nach „Veranstaltungstechnik“ sucht, dann erhält man 243 Treffer. Für „Veranstaltungsmanagement" sind es weitere 33 Normen und Publikationen. Man sieht: Es ist kaum möglich, einen Überblick über alle Normen und Regelungen zu behalten.
DIN-Normen begleiten Veranstaltungen, sei es für demontierbare Bühnen oder Medienserver. Im Bild die Woche der Umwelt 2024 mit 12.000 Teilnehmern und 190 Ausstellern im Park von Schloss Bellevue. Foto: Peter Himsel, DBU
Können Normen auch ein Fluch sein? Ein Beispiel dazu gibt ein Artikel in der Neuen Osnabrücker Zeitung, der vor ein paar Monaten unter der Überschrift „Bauunternehmer aus Bad Iburg rechnet mit Politik ab“ erschienen ist. Der Bauunternehmer beklagt dort Überregulierung, die die Baupreise erheblich verteuere. Er nennt dann zwei Beispiele:
- Im ersten Beispiel geht es um den Baustromkasten. Statt einmal beim Anschluss durch Elektrofachkräfte muss dieser nun vielfach geprüft werden – unter anderem alle vier Wochen wiederum durch eine Elektrofachkraft. Die Kosten würden sich dadurch vervielfachen.
- Das zweite Beispiel behandelt den Blitzschutz. „Wo jahrzehntelang ein verzinkter Flachstahl in der Betonsohle reichte – der Elektriker hat später den Widerstand geprüft –, wird heute ein erdberührter Edelstahlerder in schachtbrettartiger Verlegung unter und neben dem Bau gefordert“, so der Bauunternehmer. Das koste zehnmal so viel wie früher.
Das Gemeinsame an beiden Beispielen: Es handelt sich nicht um Vorgaben der Politik, sondern um Normen, die hier beklagt werden. Solche Normen können erhebliche Kosten verursachen. Die Kosten sollten dabei mit der angestrebten Schutzwirkung abgewogen werden. Das erfordert nach meiner Meinung eigentlich eine gesellschaftliche Diskussion und möglichst demokratisch legitimierte Entscheidungen. Wie sieht das nun bei Normen aus?
Wie entstehen Normen?
Normen entstehen durch unabhängige Normungsorganisationen. Oft sind dies das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN) oder die International Organization for Standardization (ISO). Viele Normen werden aber auch von Fachverbänden wie dem VDE – Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e. V. für den Bereich Elektro erstellt. Über den DIN kann man an nationalen und internationalen Normen mitwirken. Die Mitwirkung richtet sich an Fachexpert*innen. Ich selbst war über viele Jahre an der Entstehung von Normen im Veranstaltungsbereich beteiligt. Der DIN finanziert sich über zwei Wege: Auf der einen Seite müssen die Institutionen, die mitwirken möchten, einen Beitrag bezahlen. Es gibt gestaffelte Beiträge für Firmen, Verbände, Start-ups und Hochschulen. Auf der anderen Seite werden die verabschiedeten Normen über den DIN Media Verlag relativ teuer verkauft.
Kritikpunkte am Normungsverfahren
Demokratisch legitimiert sind Normungsausschüsse des DIN nicht. Es gibt kein unabhängiges Gremium, das dafür sorgt, dass auch fachliche Expertisen ohne Eigeninteressen in die Normung einbezogen werden. Allein durch die Kosten werden Fachexpert*innen, die keine eigenen wirtschaftlichen Interessen haben, bereits abgeschreckt. Sie müssten ja nicht nur kostenlos ihre Arbeitszeit einbringen, sondern auch noch dafür bezahlen. Dass die Dokumente, in denen Normen niedergeschrieben sind, nur käuflich oder mit viel Aufwand zu erhalten sind, sorgt zusätzlich für Intransparenz. Normen sind zwar nicht verpflichtend, sie werden aber in der Realität oft verbindlich, da manche Gesetze oder Verordnungen darauf verweisen oder beispielsweise Versicherer auf deren Einhaltung bestehen. Ich habe das erlebt, als ich im Schulelternrat war und an der Schule eine neue Sporthalle gebaut wurde. Alle Gesetze, die Grundlage für den Bau waren, konnten wir kostenlos einsehen. Die Norm für Sporthallen, auf die sich die Bauämter immer bezogen haben, bekamen wir aber nie zu sehen, da der Schulelternrat nicht das Geld für den Kauf hatte. Gleichzeitig machte diese Norm aber erhebliche Vorgaben, die für die Nutzung durch Schüler*innen sowie die Sportvereine relevant waren.
„Normen sind zwar nicht verpflichtend, sie werden aber in der Realität oft verbindlich, da manche Gesetze oder Verordnungen darauf verweisen.“
Prof. Dr. Markus Große Ophoff, Fachlicher Leiter und Prokurist DBU Zentrum für Umweltkommunikation der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU)
In vielen Gesprächen habe ich auch viele positive Rückmeldungen gesammelt und eigene Erfahrungen zur Normungsarbeit gemacht. Es gibt aber auch negative Rückmeldungen. Immer wieder wird berichtet, dass Firmen Normen beantragen, damit sich ihr eigenes Produkt besser am Markt durchsetzt oder mehr Umsatz für den eigenen Wirtschaftszweig generiert wird. Auch mir sind solche Beispiele bekannt. In einem Fall wurde mir sogar berichtet, dass im langen Erstellungsprozess einer Norm am Anfang unabhängige Wissenschaftler*innen über ein Forschungsprojekt beteiligt waren. Nachdem das Forschungsprojekt ausgelaufen war, konnten diese ihre Beteiligung an der Normung nicht mehr finanzieren. Bald danach wurde dann die Norm ohne die Berücksichtigung der unabhängigen Fachexpert*innen verabschiedet.
Eine Alternative: Der Blaue Engel für Veranstaltungen
Dass es auch anders geht, habe ich in den letzten zwei Jahren bei der Entwicklung des Blauen Engels für nachhaltige Veranstaltungen gesehen. Hier hat das Umweltbundesamt zusammen mit dem Forschungspartner adelphi die Vergabegrundlage für dieses Umweltzeichen erarbeitet. Hier gab es einen umfangreichen Beteiligungsprozess, an dem alle mitwirken konnten, die dies wollten. Anders als beim DIN gibt es bei anderen Organisationen auch einen Beteiligungsprozess. Bei den Richtlinien des Verbandes Deutscher Ingenieure (VDI) wird beispielsweise zunächst ein Gründruck veröffentlicht und dann ein Beteiligungsverfahren durchgeführt. Erst nach Abwägung der Eingaben wird die endgültige Richtlinie verabschiedet. In der folgenden Tabelle vergleiche ich das Verfahren für den Blauen Engel für Nachhaltige Veranstaltungen mit der Erarbeitung der ISO 20121 für ein Nachhaltiges Veranstaltungsmanagement.
Reformbedarf für die Normungsarbeit
Ich sehe einen dringenden Reformbedarf für die Normungsarbeit. Da DIN-Normen und ähnliche Richtlinien auf immer mehr Bereiche der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Umwelt Auswirkungen haben, sollte ein Mindestmaß an demokratischen Beteiligungsverfahren und unabhängiger wissenschaftlicher Begleitung sichergestellt sein. Gleichzeitig müsste die Finanzierung der DIN-Normungsarbeit dafür auf andere Füße gestellt werden. Ich sehe die folgenden Ansatzpunkte für einen grundlegenden Reformprozess:
- Finanzierung der DIN-Normungsarbeit über ein Kammermodell – ähnlich wie die Industrie- und Handelskammern – mit einem Pflichtbeitrag (der sicherlich niedrig sein würde, wenn die Normungskosten auf alle umgelegt werden).
- Sicherstellung, dass in jedem Normungsgremium – neben den Vertreter*innen aus Wirtschaft und Verbänden – auch unabhängige Expert*innen vertreten sind, die für ihre Mitwirkung auch bezahlt werden (analog der Firma adelphi beim Blauen Engel).
- Öffentliches Anhörungsverfahren bei jeder Norm, an der jede interessierte Person teilnehmen kann. Beratung aller Anmerkungen aus dem Beteiligungsverfahren in den Normungsgremien.
- Kostenlose Veröffentlichung aller Normen und damit Zugänglichkeit und Transparenz.
- Prüfung und Benennung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Norm.
- Abschließende Beschlussfassung über die Normen durch ein unabhängig eingesetztes Normungsgremium (analog Jury Umweltzeichen), das die gesellschaftlichen Abwägungen vornimmt.
Auch beim Blauen Engel sehe ich noch Optimierungsmöglichkeiten. Hier wäre es hilfreich, wenn bei der Erarbeitung der Vergabegrundlage nicht nur ein wissenschaftliches Fachinstitut, sondern auch ein kleiner Fachbeirat mit Vertretern von Vorreitern aus der Branche, Fachverbänden und Wissenschaft eingerichtet würde. Damit könnte schneller und zielgerichteter ein fundierter Entwurf erarbeitet werden. Auch wenn dies bisher nur wenig öffentlich diskutiert wird, erscheint mir eine Reform des Normungswesens überfällig, auch da die internationale Normungsarbeit zunehmend ein Instrument im geopolitischen Machtgefüge wird. Ich freue mich über den Austausch zu meinen Thesen. Teilen Sie meine Einschätzungen, haben Sie andere Argumente oder habe ich wichtige Punkte oder Argumente übersehen? Gerne auch direkt über meinen LinkedIn-Kanal.
Prof. Dr. Markus Große Ophoff