
Barrierefreie Eventgestaltung
Gemeinsame Erfahrungen schaffen
Am 18. Juni 2023 wurde mit einem Druck auf den Button die „Berliner Erklärung“ auf dem Global Forum For Inclusion anlässlich der Special Olympics veröffentlicht. Foto: Special Olympics World Games Berlin 2023, Juri Reetz
Am 18. Juni 2023 wurde mit einem Druck auf den Button die „Berliner Erklärung“ auf dem Global Forum For Inclusion anlässlich der Special Olympics veröffentlicht. Foto: Special Olympics World Games Berlin 2023, Juri Reetz
Eine inklusive und fortschrittliche Veranstaltungskultur geht weit über rechtliche Vorgaben hinaus. Von der Wahl des Veranstaltungsortes über die Anreise bis zur Kommunikation und Informationsbereitstellung – jeder Aspekt kann zu einer barrierefreien Eventgestaltung beitragen.
Am 29. und 30. August 2023 hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen („Committee on the Rights of Persons with Disabilities“) vom Deutschen Institut für Menschenrechte geprüft, ob Deutschland die Rechte von Menschen mit Behinderungen genügend umsetzt – zum zweiten Mal seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland im Jahr 2009. Obwohl die Bestandsaufnahme der ersten Staatenprüfung ein klares Verbesserungspotenzial identifiziert hat und in umfassende Empfehlungen mündete, sieht Dr. Leander Palleit, Leiter der Monitoring-Stelle UN-BRK, weiterhin Luft nach oben: „Leider unternimmt Deutschland immer noch bei Weitem nicht alles Notwendige und Mögliche, um die Vorgaben aus der Konvention umzusetzen.“ Seine Kollegin Dr. Britta Schlegel erklärt: „Ein großes Problem besteht darin, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Bedarfe in vielen Bereichen kaum oder gar nicht mitgedacht werden. Es fehlt ein durchgängiges Bewusstsein für Barrierefreiheit, die Grundvoraussetzung wäre für eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen der Gesellschaft.“
Wer zur Gruppe der Menschen mit Behinderungen zählt, regelt hierzulande § 2 Absatz 1 Satz 1 Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX) auf Grundlage der Definition in der BRK: Es sind „Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“. Nach dem Statistischen Bundesamt leben in Deutschland zum Jahresende 2019 7,9 Millionen Menschen, also 9,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, mit einer zuerkannten Schwerbehinderung. Das sind etwa 136.000 mehr als noch zwei Jahre zuvor – mit einer Dunkelziffer derer, die sich trotz Anspruch keinen Grad der Behinderung anerkennen lassen.
Die Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO reichen sogar bis zu 16 Prozent der Weltbevölkerung, wonach weltweit einer von sechs Menschen mit einer erheblichen Behinderung lebt. Behinderungen treten vor allem bei älteren Menschen auf: Lediglich drei Prozent sind angeboren, der überwiegende Teil (89 Prozent) ist auf eine Krankheit im Laufe des Lebens zurückzuführen. Dabei haben Menschen mit Behinderungen ein doppelt so hohes Risiko, zusätzlich an Krankheiten wie Depressionen, Asthma, Schlaganfällen usw. zu erkranken. Sie sind nach Angaben der WHO mit gesundheitlichen Ungleichheiten konfrontiert, die sich aus ungerechten Bedingungen, darunter Stigmatisierung, Diskriminierung, Armut, Ausschluss von Bildung und Beschäftigung sowie Barrieren im Gesundheitssystem, selbst ergeben.

Behinderungen entstehen meist im fortgeschrittenen Alter: Ende 2021 waren nur knapp drei Prozent der schwerbehinderten Menschen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. 45 Prozent gehörte der Altersgruppe von 55 bis 74 Jahren an, etwa ein Drittel war 75 Jahre und älter. Grafik:Statistisches Bundesamt (Destatis), 2023
Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und dem Älterwerden unserer Gesellschaft wächst die Einsicht in die Relevanz, Barrieren abzubauen. Wenn auch noch nicht vollständig umgesetzt, hat das Übereinkommen über Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen einen Paradigmenwechsel angestoßen, weg von der bloßen Integration, hin zur Inklusion. In Abgrenzung zur Integration bedeutet Inklusion im soziologischen Sinn das gesellschaftliche Ziel, allen Menschen mit all ihren unterschiedlichen Besonderheiten und in allen Lebensbereichen eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Dazu werden die Gegebenheiten an individuelle Bedürfnisse angepasst. „Das geht nur über eine inklusive Mentalität aus Empathie und ein universelles Verständnis von Menschenwürde. Wenn wir diese Mentalität durchsetzen, wird Inklusion zum Standard“, erklärt Dr. Jaqueline Jodl, Chief of Global Youth and Education bei der Organisation Special Olympics im Zeit Online Interview und fügt hinzu: „Für Inklusion muss man gemeinsame Erfahrungen schaffen.“
Die „Berliner Erklärung“
Gemeinsame Erfahrungen haben die Special Olympics geschaffen, die in diesem Jahr vom 17. bis 25. Juni in Berlin ausgetragen worden sind. Mit insgesamt 330.000 Besucher:innen waren die Spiele ein Impulsgeber zu einem gesunden Leben für alle, zur Ausbildung und für den Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Partizipation in Politik und Gesellschaft und zur Digitalisierung als Chance für Menschen mit (geistigen) Beeinträchtigungen. Bei dem größten deutschen Sportevent seit den Olympischen Spielen vor mehr als 50 Jahren traten knapp 7.000 Athlet:innen mit kognitiver oder mehrfacher Behinderung miteinander an – gemäß dem Motto „#ZusammenUnschlagbar“ stand nicht der Medaillenspiegel im Vordergrund, sondern vielmehr die Idee, inklusiven Sport sichtbar zu machen. Ein buntes Fest für Anerkennung und Teilhabe mit großen Emotionen auf den Sportplätzen und den zahlreichen Veranstaltungen außerhalb. Wie der Athleten-Disco, bei der etwa 10.000 Menschen mit und ohne Behinderungen vor dem Brandenburger Tor miteinander feierten.
Zeitgleich standen während der ersten Wettbewerbe bei der Konferenz „Global Forum for Inclusion“ auf der Messe Berlin an zwei Tagen die Themen „Inklusive Gemeinschaften – Zugang für alle“, „Inklusive Bildung“ und „Internationale Zusammenarbeit & Entwicklung“ im Fokus. Aus ihr ging die „Berliner Erklärung“ hervor, die aufbauend auf die UN-BRK konkrete Forderungen an Politik und Entscheidungsträger:innen enthält. Timothy Shriver, Vorsitzender Special Olympics International, sagte zur Veröffentlichung in seiner Rede: „Alle sind aufgerufen, diese zu unterschreiben. Wir brauchen nicht mehr Wörter auf dem Papier, wir müssen Türen öffnen und ins Handeln kommen! Jeder muss aktiv werden. Alle gemeinsam können wir etwas bewirken. Wir versuchen hier, eine Revolution in Sachen Inklusion anzuführen.“
Foto: Inklusion Muss Laut Sein
„Zugänglichkeit ist das I-Tüpfelchen in Sachen Inklusion.“
Seit über 16 Jahren setzt sich Ron Paustian aktiv für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben, insbesondere an Veranstaltungen, ein. Seit 2015 stellt er außerdem seine Expertise der von ihm gegründeten gemeinnützigen Organisation IMLS Inklusion Muss Laut Sein zur Verfügung. Hier werden Menschen mit Behinderungen im sogenannten „Buddie-Netzwerk“ durch assistive Hilfe und Begleitung unterstützt. Darüber hinaus bietet die Organisation mittlerweile auch Beratungen für Veranstaltende sowie Locations mit Begehungen durch Betroffene oder bietet Schulungen beispielsweise zum Thema „Diversity und Awareness als Teil der Unternehmenskultur“.
Barrierefreie Events
Obwohl barrierefreie Veranstaltungen die Möglichkeit für alle Teilnehmenden befördern können, uneingeschränkt an Teilen des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen, wird Barrierefreiheit noch zu selten in den Prozessen der Eventkonzeption berücksichtigt und bisher meist partiell umgesetzt oder nachträglich an fertige Planungen angehängt. Kerstin Hoffmann-Wagner und Gudrun Jostes nennen in ihrem Buch „Barrierefreie Events“ die Gründe dafür: Oft fehle Veranstaltungsplanenden der persönliche Zugang oder die Notwendigkeit werde aufgrund geringer Anwesenheit von Menschen mit sichtbaren Beeinträchtigungen infrage gestellt. Dabei informieren sich Menschen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, im Vorfeld ganz genau über die passende Zugänglichkeit einer Veranstaltung. Ist diese nicht gegeben oder vom Planungsteam unzureichend kommuniziert, fallen sie als potenzielle Teilnehmende weg.
Messe Frankfurt Locations Talk: „Diversität mit Inklusion leben“

Foto: Messe Frankfurt
Wie werden Veranstaltungen barrierearm? – Zu diesem Thema hat die Messe Frankfurt am 05. Juli 2023 die neue Folge ihres Digitalformats "Locations Talk" gestreamt. Im Gespräch mit den Expertinnen Kerstin Hoffmann-Wagner und Dagmar Krutzki wurden Fragen beantwortet wie: Welche Handlungsfelder gilt es für barrierefreie Events zu betrachten? Wo liegen die Herausforderungen oder Grenzen für inklusive Veranstaltungen? Wie setzt man Standards und entstehen tatsächlich zwangsläufig Mehrkosten?
Die Expertin für nachhaltige und barrierefreie Veranstaltungen Kerstin Hoffmann-Wagner erklärt am 5. Juli 2023 zum Messe Frankfurt Locations Talk auch den Nutzen für Eventplanende, die Grundzüge des gesellschaftlichen Wandels ihrer Zielgruppe zu kennen. Im Hinblick auf den demografischen Wandel sei es unerlässlich, sich viel stärker an den Bedürfnissen der Teilnehmenden zu orientieren. Um eine Atmosphäre zu schaffen, in der Menschen mit den unterschiedlichsten Ansprüchen in der Lage sind, aktiv an kulturellen, sozialen und beruflichen Aktivitäten teilzunehmen, sollte das Maß der barrierefreien Bedarfe von vornherein eruiert und für alle Handlungsfelder in den Planungsprozess integriert werden. Denn barrierefreie Veranstaltungen gingen über die bloße Beseitigung von physischen Hindernissen hinaus.
Dreh- und Angelpunkt: Die Location
Wird Barrierefreiheit von Anfang an in den Veranstaltungsprozess integriert, ist die Auswahl einer Location, die für alle zugänglich ist, von zentraler Bedeutung. Tagungszentren, Arenen, Kultur- und Kongresszentren sind in der Regel öffentlich zugängliche Gebäude. Damit werden sie im Baurecht als Sonderbauten eingestuft und sollten die Basisanforderungen der baulichen Barrierefreiheit erfüllen. Der barrierefreie Aspekt ist darüber hinaus Grundvoraussetzung für Nachhaltigkeitszertifizierungen. Als erstes deutsches Kongresszentrum hat das CCH – Congress Center Hamburg von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) in diesem Jahr eine Zertifizierung in Gold erhalten. „Das CCH verbindet den Gedanken von ökologischer, technischer und sozialer Nachhaltigkeit auf einzigartige Weise mit einem hohen gestalterischen Anspruch”, unterstreicht Heike Mahmoud, Chief Operating Officer des CCH – Congress Center Hamburg.
Das zugrunde liegende Konzept zur Barrierefreiheit für das revitalisierte Kongress-Gebäude wurde gemeinsam mit verschiedenen Interessenvertreterinnen und -vertretern der Verbände zur Inklusion erarbeitet. Mit dem Ziel einer durchgängigen räumlichen Barrierefreiheit ist das CCH stufenlos und über automatische Schiebetüren erreichbar. Die Tresen- und Handlaufhöhen wurden reduziert, ein taktiles Bodenleitsystem reicht vom Vorplatz bis zu den Sälen. Zudem wurde auf kontraststarke visuelle Informationen, optische Stufenmarkierungen und taktile Stockwerksbezeichnungen geachtet. Dabei sind Beschriftungen für blinde und sehbehinderte Menschen in Braille- und Pyramidenschrift angebracht. In den Tagungsräumen stehen induktive Höranlagen für eine gute Sprachverständlichkeit zur Verfügung, die wie Gehörlosennotrufe, optische Alarmierungsanlagen, Blitzleuchten sowie Digital Signage nicht nur hörbehinderten Menschen zugutekommen.

Das bodenintegrierte taktile Leitsystem im CCH. Barrierefreiheit lässt sich oftmals mit dem Raum- und Gestaltungskonzept verbinden. Foto: Hamburg Messe und Congress, Michael Zapf
Neben den baulichen und technischen Voraussetzungen ist für Menschen mit Beeinträchtigungen eine reibungslose und möglichst selbstständige Anreise essenzieller Bestandteil zur Teilnahme an einem Event. Zu allen barrierefreien Maßnahmen und nicht vermeidbaren Einschränkungen mit kompensatorischen Anforderungen sind sie angewiesen auf zuverlässige Informationen vonseiten der Veranstaltenden. „Kommunikation ist alles!“ sagt Kerstin Hoffmann-Wagner im Frankfurt Locations Talk. Damit meint sie nicht nur die Kommunikation als Signal an die interessierte Öffentlichkeit, sondern insbesondere den direkten Kontakt beispielsweise über Anmeldetools zu (potenziellen) Teilnehmenden, um individuelle Bedarfe abzuklären und von Anfang an in die Eventplanung einzubeziehen. Für die Ansprache seien dazu Schulungen und Seminare des Planungsteams empfehlenswert, um für Herausforderungen offenzubleiben und damit eventuelle innere Barrieren abgebaut werden sowie Grenzüberschreitungen umgangen werden können.
Weil Veranstaltungen nicht nur von Kommunikation leben, sondern selbst eine Form der Kommunikation sind, mit der möglichst viele Menschen erreicht werden sollen, sollten sie entsprechend barrierefrei gestaltet sein. Leichte Informationsweitergabe ist für alle ein Zugewinn – ob mit oder ohne Behinderung.