
Interview Kai Hattendorf
„Wir sind als Branche nicht in den Köpfen.“
Foto: UFI
Foto: UFI
Der scheidende CEO der UFI, Kai Hattendorf, über dicke Bretter, die Rolle der deutschen Veranstalter weltweit, weitere Geschäftspotenziale, was Content damit zu tun hat und weshalb er sich um das analoge Angebot „Messen“ keine Sorgen macht.
m+a report: Beim UFI-Barometer fällt auf, dass sich die deutsche Messewirtschaft in Sachen Klimaschutz und Nachhaltigkeit von ihren internationalen Kolleginnen und Kollegen unterscheidet: Bei den meisten rangiert das Thema auf den hinteren Rängen, bei den Deutschen auf Platz drei. Sind die anderen Länder den Deutschen im Klimaschutz/Nachhaltigkeit weit voraus? Oder fällt das bei ihnen hinten runter?
Kai Hattendorf: Das liegt ein wenig an der Methodik der Befragung, die nur maximal drei Antworten erlaubt bei dieser Frage. Das führt zu Schwankungen von Barometer zu Barometer – besonders bei mittel- und langfristigen Themen wie diesem. In manchen Ländern ist das Thema dabei ganz weit vorne (Brasilien), in anderen wird es komplett überlagert (USA). Daher schauen wir immer auf den generellen weltweiten Trend, und da steigt es seit Jahren nachhaltig in der Relevanz. Weltweit ist die Relevanz erkannt und wird – vor allem durch international tätige Veranstalter und Aussteller – zunehmend eingefordert. Der Umsetzungsdruck und die Komplexität der Maßnahmen unterscheiden sich von Land zu Land. Da ist Deutschland – zum Thema mehr oder weniger durchgängig aktiv seit der Umweltbewegung in den 1980ern – vielen anderen Ländern vergleichsweise voraus, etwa bei der Geländeentwicklung und der Energieeffizienz.
Weshalb legen gerade die Deutschen so viel Wert darauf? Sie sind doch – vergleichsweise – noch eher weniger bedroht durch Wetterphänomene …
Letztlich sind die deutschen Messegesellschaften in öffentlicher Hand und Kommunal- wie Landespolitiker haben das Thema seit „Politikergenerationen“ auf der Agenda – und das wirkt sich über die Geländeentwicklungen auf die Messedurchführungen an den Stammsitzen und international aus. Aus meiner Sicht ist diese Positionierung im weltweiten Standortwettbewerb ein Wettbewerbsvorteil, und der wird noch zunehmen, wenn jetzt – wie schon mit der Datenschutz-Grundverordnung – EU-weit (und damit letztlich global) verbindliche Reporting-Standards für Unternehmen zum Thema Nachhaltigkeit eingeführt werden. Aus der Gesellschafterstruktur heraus müssen die deutschen Messen zudem systemisch eher mittelfristig denken und agieren – allein schon aufgrund der Dauer von Entscheidungs-Prozessen. Da sind zum Beispiel börsennotierte oder mit Privatkapital finanzierte angelsächsische Unternehmen mehr auf kurzfristige Investitionen und Erträge ausgerichtet.
Foto: Koelnmesse
Bis Ende 2024 betreibt Koelnmesse über 20.000 Quadratmeter Solarmodulfläche auf ihren Hallendächern. Das Ziel sind drei Millionen kWh nachhaltig produzierter Strom pro Jahr. Strategisches Gesamtziel: CO2-neutrale Energieversorgung bis 2028.
Wie wirkt sich das immer extremer werdende Wetter aufs internationale Geschäft aus?
Immer mehr. Man muss nur schauen, was die Schlagzeilen über Extremwetterereignisse bedeuten: Wenn in Schanghai der stärkste Taifun aller Zeiten gemeldet wird, dann fallen Messetage aus. In Hongkong passiert das regelmäßig. Wenn es in Deutschland stürmt, dann fällt der Zugverkehr aus – und Besucher wie Aussteller kommen nicht zur Messe. Wenn es Hitzerekorde in Indien gibt, dann stoppt das Baustellen und verzögert neue Hallenprojekte. Open-Air-Konzerte (ja auch ein großes Thema für Außenflächen auf Geländen) müssen wegen Starkregen oder Gewitter abgesagt oder verschoben werden, und bei der EURO erinnern sich sicherlich noch viele an die Unwetter-Partie in Dortmund, das Achtelfinale Deutschland gegen Dänemark. Am Ende lief zwar das Spiel weiter. Aber alle Fan-Events mussten beendet und abgesagt werden. Und wenn wir den Bogen weiter schlagen: Die „New York Times“ hatte vor Kurzem einen Aufmacher mit dem Titel „Heat is killing thousands, and Big Events have not adjusted“. Beispiele im Text sind dann die 1.000 Toten, die Hitzeopfer wurden während der diesjährigen Pilgerfahrten zur Hadsch, und wie extreme Temperaturen in Indien Leute davon abgehalten haben, zu den dortigen Wahlen zu gehen. Das sind nun keine „Events“ im engeren Messe-Sinn, aber sie prägen eine Wahrnehmung, die auch auf Messen durchschlagen wird.
Messeveranstalter arbeiten daran, ausstellenden Unternehmen gute Plattformen für ihren Erfolg zu bieten, die von interessierten Besucherinnen und Besuchern aus der ganzen Welt nachgefragt werden. Doch in Sachen Außenwahrnehmung „in eigener Sache“ ist noch Luft nach oben.
Foto: Messe München
Vom Wetter zur Innovation: Manchmal kommt es mir so vor, als wären alle nur damit beschäftigt, ihre Themen halbwegs à jour zu halten, die Marken ins Ausland zu exportieren und Wachstum nur noch mit Zukäufen zu generieren – das gilt für die börsennotierten ebenso wie für die öffentlich-rechtlichen Veranstalter. Fehlt der Mut in Sachen Neugeschäft? Oder lässt sich aus Ihrer Erfahrung sagen, mein Tellerrand ist zu klein, in Lateinamerika, Südostasien, Indien, Südafrika ist das anders? Ich nenne nur zwei Beispiele: OMR und WebSummit: Kommen die Ideen von anderen, die so quasi zu Quereinsteigern werden?
Das ist ein wenig die Suche nach dem „One More Thing“, wie es das bei Apple unter Steve Job gab – die Sehnsucht nach dem einen Produkt, das einen Markt neu definiert oder gar schafft. Das gibt es auch bei Apple seit 15 Jahren nicht. Das spektakuläre Wachstum dort kommt hauptsächlich daher, dass zwar die vorhandenen Produkte regelmäßig aktualisiert werden, sie aber im Wesentlichen effizienter produziert und vermarktet werden – und aus dem Wachstum im Servicegeschäft, also mit allem, was man zu den Geräten selber an Diensten und Angeboten verkaufen kann – vom Speicherplatz in der Cloud bis zur Handyhülle. In der Messewelt ist es genauso: Was gut ist und funktioniert, wird gemacht, und das ist vollkommen o.k. – von Geo-Cloning bis zum Zukauf. Die allermeisten Innovationen sind „Alltags-Innovation“, und wir neigen dazu, das zu übersehen. Wo vor zehn Jahren alle über die eigenständigen Digitalbereiche diskutierten, da sind heute viele Produkte und Services selbstverständlich in die Angebot-Portfolios von Messemarken und -gesellschaften integriert. Zu meiner Zeit bei der Messe Frankfurt hatten wir schon früh digitale und analoge Katalogformate zusammen organisiert und in Ausstellerpaketen vermarktet. Heute sind „digital services“, ebenso wie Inhalts- und Community-Angebote, ein mindestens ebenso großes Wachstumsfeld. Das braucht Investitionen ins Digitale, die weitgehend außerhalb der öffentlichen Berichterstattung stehen. Gerade die großen börsennotierten Unternehmen in Großbritannien sind da weit voran. Und zu den Quereinsteigern: WebSummit, Burning Man, South by Southwest – wir kennen diese Beispiele seit Jahren, in denen Community-getriebene Events zu globalen Marken werden, und wir tun uns komischerweise schwer damit, daraus zu lernen. Dabei gibt es exzellente Beispiele wie Money 20/20 oder Corporate Events wie von Salesforce, die zeigen, wie Ideen in den B2B-Bereich überführt werden können – jenseits von Schlagworten wie „Festivalisation“ oder Symbolaktionen. Vermutlich werden wir das in Deutschland am ehesten als Importe von internationalen Veranstaltern sehen. Die „neue“ IFA in Berlin, jetzt mit Clarion im Rücken, war ein guter Re-Start, und ich bin auf die erste Gitex Europe gespannt, einen Ableger der Gitex-Show in Dubai, die von Kaoun veranstaltet wird, dem Veranstaltungs-Arm des Dubai World Trade Centers.
Über UFI
Das Kürzel UFI stand bis 2003 für Union des Foires Internationales, heute nennt sich die Organisation UFI, The Global Association of the Exhibition Industry. Der Interessenverband der weltweit größten Veranstalter von Messen und Eigentümer von Messegeländen wurde am 15. April 1925 in Mailand von den damals 20 größten europäischen Messeveranstaltern gegründet, und zwar: Bordeaux, Brüssel, Budapest, Köln, Danzig, Frankfurt/Main, Leipzig, Ljubljana, Lvov, Lyon, Mailand, Nischni Nowgorod, Padua, Paris, Prag, Reichenberg, Utrecht, Valencia, Wien und Zagreb. Das Programm zum 100. Geburtstag wird eingeläutet auf dem UFI-Weltkongress 2024, der vom 20. bis 23. November in Köln stattfinden wird.
Viele große, international agierende Veranstalter haben einen publizistischen Hintergrund. Ist das ein wichtiges Kriterium, jetzt, da immer mehr Content gefordert wird?
Es ist spannend zu sehen, wie sich hier gerade ein Kreis schließt. Viele der großen internationalen Messeveranstalter waren ja Abteilungen und Ausgründungen von Verlagen. Über die Jahre ist dann das Geschäft mit Fachpublikationen aufgelöst oder abgegeben worden – die Vertriebskosten waren hoch, und es war einfach viel lukrativer, die eigenen Kunden mit Messen und B2B-Veranstaltungen zu aktivieren. Jetzt, in einer voll-digitalisierten, zunehmend datengetriebenen und bald AI-optimierten B2B-Welt, wird das physische Event seine Rolle als zentraler Treffpunkt behalten. Es gibt aber ein immenses Potenzial – und auch die Erwartung der Kunden – dass es immer bessere, punktgenaue, individuelle Informationen und Angebote gibt. In dem Kontext ist Content der Universal-Schlüssel, der es Messeveranstaltern erlaubt, Kunden individuell mit Inhalten zu bedienen, während sie gleichzeitig mehr über die Interessen der einzelnen Kunden lernen (Wer hat welches Thema wann abgerufen?). Das Geschäftspotenzial für Content-getriebene Abo-Modelle ist gewaltig, und – anders als in analogen Zeiten – ohne dass der Vertrieb von Content für die Anbieter ein Kostenblock ist.
Können die internationalen Leitmessen eine Funktion als Metaebene einnehmen? Sie müssen nur das mit der Content Creation/Generation hinbekommen. Ein neues Geschäftsfeld? Es gibt doch in Deutschland so viele internationale Leitmessen. Sind neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Messeveranstaltern und Content-Lieferanten wie Verlagen vorstellbar?
Klar! Jede Leitmesse ist eine starke Marke. Das muss sich ja nicht auf die Messe alleine beschränken. Marken können geweitet werden. Britische und US-Veranstalter haben längst in Fachverlage investiert und sich damit Zugang zu branchenspezifischen Inhalten (und zusätzlichen Reichweiten) verschafft. Das können deutsche Messegesellschaften international auch tun – und tun es ja auch hier und da. In Deutschland selbst braucht es aber einen anderen Ansatz – wieder einmal den Gesellschafter-Strukturen geschuldet: Die Messegesellschaften sind in öffentlicher Hand – und damit de jure staatlich – und können entsprechend nicht verlegerisch tätig sein. Aber Joint Ventures und Partnerschaften sind sicherlich ein Weg.
Was sind eigentlich Messen für Medien/Produkte, wenn selbst Medienredakteure bei der IFA feststellen: „Es scheint im Trend zu liegen, dass gerade solche Flaggschiff-Messen verstärkt auch online besucht werden.“ So Frank Puscher am 6. September in Meedia. Der Dienst konstatierte: „Jüngst freute sich die Gamescom über gigantische Abrufzahlen für die eigenen Videostreams ...“
Unsere Branche hat sich – in Deutschland ebenso wie weltweit – viel zu lange viel zu wenig um ihre Außenwahrnehmung gekümmert, und dafür haben wir in der Pandemie einen hohen Preis bezahlt. Als wir bei UFI 2016 den „Global Exhibitions Day“ als weltweiten Kampagnen-Tag für die Branche gestartet haben, da war die Skepsis gerade in Deutschland groß – ob so ein Gattungsmarketing denn nötig sei, es würde doch nur „ablenken“ vom Fokus auf die einzelnen Messen und ihre spezifischen Marken. Inzwischen machen wir erfolgreich Lobbyarbeit – UFI betreibt und unterstützt direkt Präsenzen in Brüssel und in Washington DC und der deutsche Verband Auma baut und vertieft erfolgreich Beziehungen zu Politik und Medien. Aber: Das ist ein „dickes Brett“, und ich merke in meinen Gesprächen mit Politikern wie Journalisten weltweit immer wieder, dass wir da als Branche nicht in den Köpfen sind. Das zu ändern, ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die „neue“ Medienwelt mit den sozialen Medien gibt uns da auch neue Möglichkeiten, Gattungsmarketing zu machen. Andere Branchen haben das geschafft, wir müssen es als Branche wollen – und tun, und in das Thema nicht zuletzt auch investieren.

Der 100. Geburtstag der IFA war eine Art „Jungbrunnen“. Die Messe wusste mit dem veränderten Konzept zu punkten und junge Medienschaffende und Content-Creatoren zu begeistern. Foto: Maz und Movie, Markus Braumann
Was bekommen Redakteure von Messen /vom Messewesen mit? Anders gefragt: Hängen Messemenschen in einer eigenen Blase fest? Wenn ja, wie könnten sie da rauskommen?
Jede Branche ist eine Blase mit eigenen Regeln, Jargon, Überzeugungen und Kulturen – ich habe ja über die Jahre selber in einigen Industrien gearbeitet. Was Redakteure mitbekommen: sicherlich zu wenig, oder, in den meisten Fällen: vermutlich gar nichts. Wirtschafts- und Verbraucher-Redaktionen sind branchenfixiert, weniger kontextorientiert. Daher passiert es, dass ein TV-Sender stundenlang live von einer Elektronik-Messe sendet, ohne einmal zu thematisieren, wie denn dieses Event eigentlich zustande kommt – eben weil die Redaktion auf ihre Branchen-Berichterstattung fokussiert ist. Eine Idee, um das zu überwinden: Wenn Veranstalter zum „Making of...“ einladen, zum Blick hinter die Kulissen. Netflix hat zum Beispiel vor einigen Jahren die Serie „7 Days Out“ produziert – Einblicke „hinter die Kulissen von einigen der größten Events der Welt“. Darunter: das Kentucky Derby (ein Pferderennen) in den USA, die Chanel Show während der Fashion Week in Paris, die Cassini-Mission der NASA und die Westminster Dog Show. Nichts gegen diese Events, aber etwa der Aufbau einer Bauma oder einer Boot hätte da exzellent hineingepasst – doch die Produzenten kamen nicht auf die Idee, weil wir nicht in den Köpfen sind, siehe oben.
Worin liegt für Sie der größte Unterschied zwischen öffentlich-rechtlichen Veranstaltern wie bei den großen in Deutschland und den Privaten dieser Welt?
In den Gesellschafter-Strukturen, denn die führen zu sehr unterschiedlichen Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen. Ein Beispiel: Wenn ein Unternehmen oder ein Messe-Portfolio auf dem Markt zum Verkauf gestellt wird, dann läuft so ein Prozess über wenige Monate bis zum Abschluss. Das ist systemisch zu schnell für die allermeisten Unternehmen in öffentlicher Hand. Das wiederum bedeutet, dass deutsche Messegesellschaften ihre Zukäufe anders organisieren und auch langfristiger planen. Weil zudem in den öffentlich-rechtlichen Gesellschaften Gelände- und Veranstalter-Geschäft integriert betrieben werden, entstehen andere Prioritäten und Gewichtungen als bei den „reinen“ Veranstaltungsunternehmen. Das ist weder gut noch schlecht, es ist eben anders. Aber in einer sich konsolidierenden Branche führt das dazu, dass nach und nach die Deutschen in den weltweiten Ranglisten (nach Umsatz wie Gewinn sortiert) eher weiter an Boden verlieren. Just jetzt kam ein neues Ranking vom Beratungsunternehmen Stax heraus – wie alle solchen Rankings mit einer speziellen Methodik, aber das ist ein anderes Thema. Mit den reinen Veranstalterumsätzen aus 2023, wie die Berater dort sie kennen oder schätzen, schaffen es noch Frankfurt, München und Düsseldorf in die Top 10.
Christiane Appel